Wenn der Spiegel bricht
- Claudia Sieber Bethke

- 9. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juli
Über das Verschwinden des Gewohnten und das Auftauchen des Wesentlichen
Es heißt, wer einen Spiegel zerbricht, dem folgen sieben Jahre Unglück. Demgegenüber sammeln Menschen seit jeher zerbrochene Scherben – als Glücksbringer.
Der Spiegel. Ein uraltes Symbol, das in vielen Märchen eine tiefere, oft unheimliche oder erkenntnisbringende Bedeutung trägt. Ob Schneewittchen, die kleine Meerjungfrau, die Schneekönigin oder Alice im Wunderland - der Spiegel war Seelenträger, Übergangsobjekt, Wahrheitsfinder und Zerrbild zugleich. Er zeigte, was möglich war und offenbarte, was nicht gesehen werden wollte.

Er galt als empfindliches Abbild der Seele. Und wer ihn zerbrach, so glaubte man, rührte an das eigene Schicksal. Gleichzeitig aber deutete man zerbrochene Dinge oft als Glücksboten, weil sie das Alte beendeten und das Neue einleiteten.
Zwei Lesarten, ein Geschehen. Ein abergläubischer Widerspruch – vielleicht. Aber vielleicht liegt zwischen beiden Deutungen auch eine stille Einladung.
Was, wenn der Bruch selbst der eigentliche Hinweis ist? Nicht das Urteil über die Folgen, die das Zerbersten des vertrauten Ich-Symbols mit sich bringen könnte. Ja, es sind zwei widersprüchliche Bilder. Und doch teilen sie denselben Ursprung: den Moment eines Um-Bruchs. Etwas zerspringt. Etwas, das zuvor ganz war, geordnet, eindeutig, glatt.
Wenn wir diese alte Metapher auf unsere Seele – unsere Psyche, unser Selbstbild, unser inneres Erleben – einmal ernst nehmen, dann steht am Beginn jeder Wandlung ein inneres Klirren. Ein Auseinanderfallen dessen, was wir für uns hielten. Ein Spiegel, der unsere Identität nicht mehr bestätigt. Oder das, was sie für uns bedeutete.
Und gerade darin könnte sich Wirklichkeit offenbaren. Denn bevor wir entscheiden können, in welche Richtung sich unser Leben wendet, müssen wir anerkennen, dass ein altes Bild zerbrochen ist. Dass etwas wehtut. Dass etwas sichtbar wird, was nicht mehr polierbar ist – aber dadurch vielleicht echter. Und dann, an dieser Schwelle zwischen Echo und Ursprung, zwischen Ego und Seele, stellt sich plötzlich eine Frage:
"Wer bin ich, wenn niemand mehr zurückspiegelt, was ich immer war?"
Wenn Spiegel verschwinden
Es gibt Schwellen, die sich nicht laut ankündigen. Sie liegen selten in Kalendern oder Biografien. Und doch treten viele Menschen irgendwann darüber. Wenn sich die gewohnten Rückmeldungen auflösen. Wenn niemand mehr sagt: „Du bist doch die, die immer …“. Was früher über Jahrzehnte als Wiedererkennungsmerkmal gespiegelt wurde – durch Beruf, Familie, Beziehung, Rolle, Kontext – beginnt sich aufzulösen. Nicht weil etwas falsch war. Sondern weil es einfach … zu Ende gespiegelt ist.
Die Gewohnheit, jemand sein zu müssen
Viele Menschen neigen in solchen Momenten dazu, sich neue Bilder zu suchen. Sich mit alten, gewohnten Strategien ein neues Gewand überzustreifen. Neues Ansehen, neue Funktion, neue Zugehörigkeit. Ein "irgendwie weiter so", das vertrauter scheint als ein Innenhalten. Doch nicht immer braucht es eine neue Form. Manchmal braucht es sogar schlicht einen Moment der Entformung. Ein sich aushalten in jenem Raum, in dem man weder weiß, noch benennen kann, was und wer man ist.
Psychologisch gesehen mag das wie eine Bruch wirken. Spirituell ist es oft ein Übergang. Philosophisch vielleicht eine Einladung zur Selbsttranszendenz. Biografisch oft unspektakulär – aber innerlich nichts Geringeres als eine Lebenswende.
Ein Stillstand, der kein Ende ist
In dieser Phase zeigt sich oft ein Phänomen, das in spirituellen Texten als dunkle Nacht der Seele beschrieben wird. In der Psychologie wird es als Identitätskrise benannt. Was es nicht ist – eine Katastrophe. Vielmehr ist es ein Zustand erhöhter Empfänglichkeit, wenn das alte Selbstverständnis still wird und das Neue noch keine Stimme hat.
Viele kennen diese Leere – und fürchten sie. Denn dieser Raum des Nichts lässt sich nicht erklären. In diesem Raum ist nichts sichtbar, nichts messbar, nichts lösbar. Doch gerade in diesem Vakuum beginnt etwas zu atmen, das jenseits von Zuschreibungen liegt. Etwas Ursprüngliches. Nicht gemacht – aber zutiefst so gemeint.
Und falls du, der diesen Text liest, gerade in dieser Leere stehst – vielleicht verwirrt, erschöpft, allein – dann sei dir gesagt: Du bist nicht falsch. Du bist nicht gescheitert. Auch wenn es sich anfühlt, als würde alles in dir zerfallen, ist das kein Beweis deiner Schwäche – sondern ein stiller Hinweis auf deine Menschlichkeit. Es ist okay, wenn du keine Worte findest. Es ist okay, wenn du weinst. Glaub mir, du musst nicht durchgegangen sein, um endlich stimmig DU zu sein.
Neue Perspektiven wachsen leise
Wer durch solche Phasen geht, merkt oft, wie sich das eigene Sehen verändert. Nicht nur der Blick auf sich selbst, auch der Blick auf andere. Wer es nicht geübt hat, sich selbst zu hinterfragen, wird es in solch einem Moment nur schwer ertragen, dass auch das Gegenüber anders sein könnte, als man es bisher gesehen hat oder sehen wollte.
Man beginnt zu spüren, wie auch andere Menschen auf Lebensbühnen stehen, die ihnen nicht mehr entsprechen. Wie viele Beziehungen auf Spiegelmechanismen beruhen, nicht auf echten Begegnungen. Wie sehr Systeme sich aus Rückmeldeschlaufen nähren, statt aus der Wahrheit zu schöpfen. Und plötzlich stellen sich Fragen, wie
"Was bleibt, wenn das alles wegfällt?
Was hält mich, wenn niemand mehr applaudiert?
Worauf hört ein Mensch, wenn die äußeren Stimmen verstummen?“
Ein inneres Erkennen beginnt – tastend, öffnend
Nicht jeder Mensch stellt sich diese Fragen bewusst. Aber viele spüren sie. In Übergängen, im Rückzug, manchmal ganz still zwischen zwei Atemzügen. Dann zeigt sich, dass das Wesentliche nicht laut ist. Dass das Wahre keine Bestätigung braucht. Dass das Leben nicht gesehen werden will, sondern geschehen will.
Und mit diesem Gedanken kommt oft ein leises, inneres Unbehagen, das viele nicht zuordnen können. Eine diffuse Entwurzelung, ein Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer man ist. Es ist wie ein Aufweichen alter Selbstbilder, um dem zu begegnen, was darunter wartet.
Was hier berührt wird, ist nicht verwerflich oder verrückt, sondern menschlich. Es ist ein Entwicklungspunkt. Ein Möglichkeitsraum. Ein Ort, an dem die Selbstinszenierung bröckelt und die innere Wahrheit atmen darf. Wer sich dieser Schwelle nicht verschließt, sondern sie als Teil eines kollektiven Wandels begreift, wird ein anderes Sehen entwickeln. Eines, das nicht mehr fragt: „Was bin ich wert?“, sondern: „Was will durch mich ins Leben kommen?“
Das Individuum auf dem Weg zur Ganzheit
Was im Einzelnen geschieht, erzählt immer auch vom Zustand des Ganzen. Vielleicht sind es gerade die leisen Risse in der Seele eines Menschen, die etwas über die Bruchlinien der jeweiligen Zeit verraten. Denn viele stehen heute an einer Schwelle – nicht nur persönlich, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Und es scheint, als könnten wir uns selbst und unsere Welt nicht länger in das einordnen, was wir bisher für normal hielten. Vor allem weil unsere Gesellschaft kein Vokabular dafür bietet, und das allem Anschein nach auch nicht will. Denn das würde Aufbruch bedeuten - und davor haben wir Angst. Das ist sehr gut erkennbar, wenn wir sehen, wie laut nach Veränderung gerufen wird, in der Hoffnung, dass alles so bleibt wie es ist.
Vielleicht liegt genau darin das größte Missverständnis unserer Gegenwart: dass wir nach Lösungen suchen, während wir versuchen, das Bestehende zu konservieren. Dass wir Fortschritt wollen, solange er uns nicht fortreißt. Doch jeder Übergang bringt nun mal auch Unordnung. Und genau dort zeigt sich, wie reif wir für das Neue wirklich sind. Ob wir fähig sind, Unsicherheit auszuhalten, Komplexität zu umarmen, Verantwortung äußerlich wie innerlich zu übernehmen.
Denn eine zukunftsfähige Gesellschaft entsteht nicht durch zementierte Systeme, sondern durch Menschen, die bereit sind, gewohnte Konzepte zu hinterfragen. Menschen, die erkennen, dass ihre Stimme Wirkung hat. Und dass Sprache nicht nur benennt, sondern auch erschafft. Wir brauchen auch keine neuen Etiketten, wir brauchen neue Haltungen. Als ethischen Kompass, der uns nicht zurückführt, sondern vorausschauen lässt. Wir brauchen Räume, in denen Erinnerung nicht romantisiert, sondern aktiviert wird. Räume, in denen die Freiheit der Meinung gewahrt bleibt, indem Meinungsfreiheit ethisch, verantwortungsbewusst und respektvoll eingerahmt wird.
Für eine zukunftsfähige, faire, heilsame Gesellschaft müssen wir reif werden. Zumindest reif genug, uns bewusst zu sein, dass man mit dem eigenen Wirken etwas bewegt - etwas auslöst. Wir müssen wieder lernen, uns der Verantwortlichkeit unseres Agierens bewusst zu sein. Wir müssen uns erinnern, dass dort die eigene Freiheit endet, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Um diese Reife zu erlangen, werden uns Schwellenzeiten vom Leben angeboten. Identitätskrisen, die uns einladen, uns zu hinterfragen und uns zu dem zu entfalten, was uns ausmacht. Verantwortliche Wesen, die wissen, dass sie sich nur in Beziehung wieder erkennen. Dass Identitätsfragen keine Schwäche sind, sondern eine Hilfestellung auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit. Ein Suchen nach Antworten auf eine überforderte Welt, in der das Sein wieder seine Würde finden will.
Wegmarken der Erinnerung
Was aber hilft uns nun, durch solche Schwellenzeiten hindurchzugehen, ohne uns gänzlich zu verlieren? Was sollen wir als Einzelne, aber auch als Gesellschaft erkennen, wenn das Alte keine Antworten mehr gibt und das Neue noch keine Sprache hat? Wie können wir diesen oft unbequemen inneren Wandel als Teil einer größeren Bewegung verstehen? Einer Bewegung hin zu mehr Wahrhaftigkeit, Beziehung, Verantwortungsfähigkeit. Nun, vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur nach Lösungen zu suchen, sondern uns an etwas ganz Altes zu erinnern.
An das, was schon in uns angelegt war, bevor es jemand benennen oder spiegeln konnte.
An das, was sich nicht erst finden, sondern nur freigelegt werden will.
An das, was uns innerlich leitet, bevor wir etwas darstellen.
An das, was uns verbindet, bevor wir uns abgrenzen.
An das, was uns trägt, wenn kein Bild, kein Lob, kein Name mehr genügt.
Nicht im Sinne von Rückschau, sondern im Sinne eines sich Rückbesinnens an das, was wir jenseits aller Rollen sind.
Ein Blick hinter den Spiegel
Vielleicht sind gerade unsere Zögerlichkeiten kleine Taschenlampen, die uns dort hinführen, wo wir schon immer zuhause waren.
Vielleicht ist es nicht nötig, immer zu wissen, wer man ist.
Vielleicht genügt es, das zu verlernen, was man ohnehin nie wirklich war.
Vielleicht beginnt das Eigene genau dort, wo man aufhört, es benennen zu wollen.
Vielleicht trägt uns nicht unser Wissen, sondern unser Ahnen.
Um das herauszufinden, braucht es mitunter einen Unterbruch in unserem turbulenten Leben. Es braucht auch Mut – vor allem Sanftmut – unser Spiegelbild zu hinterfragen. Und manchmal ist ein erster Schritt hin zur ehrlichen Innenschau der Ursprung einer neuen Wahrheit. Vielleicht tun wir diesen genau in dem Moment, wenn ER am Rand eines alten Spiegels erscheint …

